Der Walnussbaum

Eine Dame aus meinem Bekanntenkreis ist jetzt 95 Jahre alt und immer noch einigermaßen rüstig. Oft sitzt sie auf der Bank vor ihrem Haus und freut sich an dem Grün um sie herum. Der seltene Zibartenbaum, der jedes Jahr zuverlässig seine Früchte trägt, die rosa Rosen und der leuchtend grüne Rasen. Aber ihr besonderer Liebling ist und bleibt ihr Walnussbaum.

Als ich vor fünfzehn Jahren hier einzog, war er noch ein zartes Pflänzchen. Nun ist er vier Meter hoch und beschenkt uns jedes Jahr im Sommer mit seinem Schatten und im Herbst mit einer Schüssel voller Walnüsse.

Meine Bekannte sitzt auf ihrer Bank unter dem Baum, betrachtet all das voller Dankbarkeit und freut sich über jeden Tag, den ihr das Leben noch schenkt. Oft erzählt sie mir, dass sie in diesem Haus geboren wurde, von ihren ersten Schultagen und von den geliebten „Schokladeweck“, die sie sich als Kind ab und zu leisten durfte. Sie erzählt von der „Schlitterbahn“, die sie sich im Winter vor dem Haus geschaffen hatte und die ihre Mutter mit Holzasche aus dem Ofen zerstört hat. Von den abgetragenen Schuhen, für die sie sich so sehr in der Schule geschämt hat. Vom Krieg und von der Kinderlandverschickung nach Mecklenburg. Das war das einzige Mal in ihrem Leben, dass sie ihr Heim verlassen musste.

Hier ist sie aufgewachsen, hier hat sie geheiratet und ihre Kinder großgezogen, hier hat sie ihre Enkel betreut und ist alt geworden. Hier hat sie ihre Wurzeln.

Oft erzählt sie mir, sie habe als Kind eine Walnuss in den Boden gesteckt und damit ihren Baum zum Leben erweckt. Sie schildert mir, was für ein großes Wunder es sei, dass etwas so Großartiges aus einer kleinen Nuss entstehen kann. Ein großer Baum, der seine Wurzeln tief in die Erde getrieben hat und seine Krone dem Himmel entgegenstreckt.

Wenn sie mir das nächste Mal wieder erzählt, dass sie diesen Baum vor fast hundert Jahren gepflanzt hat, werde ich andächtig nicken, genau wie immer. Ich weiß, was sie mir sagen will.

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