Zum Vorlesen lassen: Heimkehr

Um euch die Sache zu erleichtern, könnt ihr sie nicht nur nachlesen, sondern euch auch vorlesen lassen. Eine Premiere!

Vorlesen lassen:

Und falls ihr es doch lieber lesen wollt:

Burladingen (Baden-Württemberg) 1946

Werner schlich sich die alte Holztreppe hinab. Wie jeden Tag saßen seine Mutter und Tante Emma nach dem Mittagessen in der Küche und unterhielten sich. Die beste Zeit, sich nach draußen zu stehlen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Er tastete nach der Steinschleuder in seiner Hosentasche. Gestern Abend war es ihm endlich gelungen, ein Einmachgummi zu stibitzen. Sicher flogen die Steine damit besonders weit. Hoffentlich bis in den Wipfel des Zwetschgenbaums beim Bauer Huber. Die Treppe hatte er geschafft. Einen Schritt weiter und er würde vor der Haustür stehen. Er lugte um die Ecke. Die Küchentür am Ende des Flurs war angelehnt. Die Stimmen dahinter klangen aufgeregt. Besser er machte sich aus dem Staub, bevor man ihm wieder irgendwelche Arbeiten auftrug. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und öffnete die Tür. Da hörte er das Wort Pirmasens. Wie angewurzelt blieb er stehen und lauschte.

»Geh fort, moje schunn?« Die Stimme seiner Mutter klang aufgeregt.

»Ha jo – wann i dir‘s sag«, antwortete seine Tante. »Morge früh fahred ihr hoim. I han’s ned glauba wolla. Jedzd seid ihr scho vier Jahr do ond noh gohd’s so gschwend.«

Heim? Werners Herz machte einen Satz. Das große grüne Mietshaus in der Sonnenstraße tauchte vor seinem inneren Auge auf. Dann die Gesichter seiner Freunde. Wie es ihnen wohl ging? Würde er sie alle wiedersehen? Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er fuhr herum, rannte den Flur entlang und stürmte in die Küche. Aus weit aufgerissenen Augen sahen ihn die beiden Frauen an.

»Fahren mer wirklich häm?« Werner kletterte zu seiner Mutter auf die Eckbank.

Diese wischte sich eine Träne von der Wange, lachte und fuhr ihm durchs Haar. »Ja, endlich gehn mer häm.«

In der Nacht wälzte sich Werner im Bett hin und her. So viele Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Ihre Ankunft in Burladingen kam ihm in den Sinn. Was für eine schwere Zeit das gewesen war.

»Stockfranzosen«, hatten die Kinder sie genannt.

Nur weil Pirmasens nah an der französischen Grenze lag. Jeden Tag diese Hänseleien in der Schule. Als ob er gerne hierhergekommen wäre. Dabei mussten sie fliehen. Es war viel zu gefährlich geworden.

Fast jede Nacht rissen ihn damals die Sirenen aus dem Schlaf. Die ganze Familie stürmte aus dem Haus. Oft waren die Jagdbomber bereits zu hören. Um in den Luftschutzbunker zu fliehen, war die Zeit zu knapp und sie suchten Schutz im Keller. Das Brummen der Motoren wurde immer lauter – bis es über ihnen dröhnte. Dann war es zu hören – das gefürchtete Pfeifen der fallenden Bomben. Werner hielt den Atem an und zuckte zusammen, wenn sie einschlugen. Der Boden vibrierte und Sand rieselte von der Decke. Solche Nächte musste er zum Glück nicht mehr erleben. Aber hier in Burladingen hatte es auch einen Angriff gegeben. Diese Erinnerung ließ ein flaues Gefühl in seinem Magen aufsteigen.

Er hatte im Wald gespielt und war auf dem Weg nach Hause. Dazu musste er eine freie Grasfläche überqueren und den Hang, Richtung Straße hinunterlaufen. Das Brummen eines Motors ließ ihn innehalten. Kein Zweifel, es kam von oben. Seine Augen suchten den Himmel ab. Da, ein Flugzeug! Es flog eine Schleife und ging in den Tiefflug. Der Stern an dessen Seite war deutlich zu sehen. Ein amerikanischer Jagdbomber! Werner wurde übel. Sein Herz stolperte. Er rannte Richtung Wald. Unter den Bäumen würde er Schutz finden. Gehetzt drehte er sich im Laufen um und sah zum Himmel. Viel zu nah war der Bomber gekommen. Er würde es nicht bis zum Waldrand schaffen. In seiner Panik hechtete er in eine Mulde und landete auf dem Rücken. Nicht fähig sich zu bewegen, sah er dem Jagdbomber entgegen. Immer tiefer sank dieser herab. Dann ratterten Schüsse. Sie waren furchtbar laut. Um sich herum hörte er Einschläge. Sein Herz klopfte wild gegen seine Rippen. Er konnte nicht einatmen. Es fühlte sich an, als läge eine Zentnerlast auf seiner Brust. Der Bomber flog über ihn hinweg entfernte sich und kehrte nicht zurück. Werner schnappte nach Luft. Vorsichtig bewegte er sich und atmete tief durch. Er war nicht verletzt. Hastig rappelte er sich auf und rannte zum Haus seiner Tante.

Es stellte sich heraus, dass nicht er, sondern ein deutscher Soldat beschossen worden war. Dieser hatte mit seinem defekten Lastwagen nur wenige Meter unterhalb von Werner am Straßenrand gestanden. Was er um sich herum gehört hatte, waren die Hülsen der Patronen. Zum Glück hatte der Soldat vorgesorgt und eine Grube ausgehoben. Darin hatte er Schutz gefunden.

Wenige Tage später wurde das Kriegsende verkündet. Französische Soldaten marschierten ein und besetzten den Ort. Werner lauschte den Gesprächen der Erwachsenen. Die meisten hatten Angst vor ihnen. Doch schnell merkte Werner, dass sie nichts zu befürchten hatten, wenn sie sich an die Regeln hielten. Das tat er und lernte einen von ihnen näher kennen. Sein Name war Marcel. Der junge Mann holte ihn mit einem Geländewagen von zu Hause ab und nahm ihn mit zu ihrem Hauptquartier. Dort war Marcel Küchenchef. Von nun an hatte Werner eine Stelle als Küchenjunge. Kartoffeln schälen war dabei seine Hauptbeschäftigung. Jeden Tag gab ihm sein Freund Lebensmittel mit nach Hause. Dort breitete Werner den Inhalt seines Beutels auf dem Küchentisch aus. Es machte ihn glücklich und stolz, in die strahlenden Gesichter seiner Familie zu sehen. An manchen Tagen arbeiteten sie über die Sperrstunde hinaus. Marcel brachte ihn dann nach Hause. Einmal ging er mit hinein. Werner unterhielt sich auf Französisch mit

ihm. Seine Mutter und Tante Emma machten große Augen. Bis dahin hatten sie nicht gewusst, dass er das konnte.

Seit Marcel in sein Leben getreten war, gestalteten sich die Tage für Werner viel angenehmer. Jeden Morgen freute er sich darauf, nach der Schule Zeit mit seinem Freund zu verbringen. Bis es zu einem schrecklichen Unfall kam. Marcel stürzte von einem Heuschober und verletzte sich schwer. Seine Kameraden brachten ihn in ein Militärkrankenhaus. Seitdem hatte Werner nichts mehr von ihm gehört. Es machte ihn sehr traurig, dass er sich nicht von ihm verabschieden konnte und dass er nicht wusste, was mit ihm geschehen war. Er atmete tief durch. Wie bei seinem Papa. Bei dessen letztem Heimaturlaub hatte die Familie eine schöne Zeit zusammen verbracht. Viel zu schnell war der Urlaub vorbei und er musste zurück zur Front. Anfangs kamen noch Briefe von ihm. Die blieben dann aus. Bis heute hatten sie nichts mehr von ihm gehört. Werner wüsste so gerne, wo sein Vater ist. Seine Mutter hatte gesagt, er sei vermisst. Zum Glück wurden die vermissten Soldaten mit den Zügen nach Hause gebracht. Hoffentlich war sein Vater bald dabei.

Werner blinzelte, öffnete die Augen und sah zum Fenster. Draußen war es noch dunkel. Von unten hörte er Stimmen. Er setzte sich auf, gähnte und streckte sich. Reinholds Bett war leer. Dann fiel es ihm ein. Heute fuhren sie nach Hause! Mit einem Satz stand er auf den Füßen und zerrte seinen Rucksack unterm Bett hervor. Hastig zog er sich an, griff nach seiner Jacke und stürmte die Treppe hinunter. Seine Sachen ließ er auf der letzten Stufe fallen und steuerte auf die offene Küchentür zu.

»Moint«, rief er in die Runde und setzte sich neben Reinhold an den Tisch.

Onkel Henry schlürfte seinen Tee und erwiderte den Gruß.

»Ich wollt dich grad wecke komme.« Seine Mutter goss Milch in seine Tasse. »Hasche gut geschlof?«

»Nee.«

»Des kann i mer guat vorstella.« Tante Emma kramte in dem weißen Küchenschrank, der neben der Essecke stand. Sie nahm einen Laib Brot heraus und zog die Besteckschublade auf.

Onkel Henry holte die Wasserkanne von dem Holzherd. In ihr blubberte das Wasser für den Muckefuck.

Werner trank von seiner Milch und beobachtete Tante Emma.

Diese packte das Brot und ein Stück geräucherten Schinken in einen Leinenbeutel. Werner lief das Wasser im Mund zusammen. Dazu legte sie ein Messer. Einige Äpfel und Zwetschgen wanderten in einen anderen Beutel. »

Des müssd langa, bis ihr dahoim seid.« Sie schaute in die Runde. »I will mir gar ned vorschdella wie’s sai wird wenn ihr nemme da seid.«

Onkel Henry nickte. »Des wird ned leichd. Mir han uns so an eich gwöhnd. Ihr werded uns fehla.« Er wandte sich an Reinhold. »Des Buch des i dir gschdern geba han kannsch bhalda.«

Werner sah zu seiner Mutter. »Wann fahrn mer los?«

»Gleich nohm Friestick.«

Allmählich verflüchtigte sich der Morgennebel. Werner sah den Straßenzug bis zur nächsten Kurve ein. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, schlurfte er auf dem Gehweg auf und ab. Herbstlaub klebte auf dem nassen Asphalt. Er ging auf seine Mutter zu und blieb stehen. »Wann kommt de Bus endlich?«

Diese hielt Helga auf dem Arm und beugte sich etwas zu ihm hinab. »Der kommt bestimmt gleich.«

Werner atmete tief durch. Sein Blick fiel auf seinen Bruder. Der zog die Schultern hoch und gähnte. Wie schaffte es Reinhold stillzustehen? Ihm selbst wurde trotz des kühlen Morgens heiß, wenn er sich nicht bewegte, weil so viele Gedanken auf ihn einstürmten. Ob das Haus noch stand? Sicher nahmen die Erwachsenen an, er wüsste nicht Bescheid. Mit ihm und Reinhold hatten sie nicht darüber gesprochen, doch er hatte sich in der Nacht oft auf die oberste Stufe der Holztreppe gesetzt, um zu lauschen. Von den Luftangriffen auf Pirmasens, von der Zerstörung und von den vielen Opfern hatten sie erzählt. Er mochte sich das gar nicht vorstellen. Wieder nahm er seinen Weg auf. Dieses Mal in die andere Richtung. Endlich, das Tuckern eines Motors war zu hören. Werner fuhr herum. Gemächlich bog der Bus um die Kurve, zog dicke Rauchwaden nach sich und hielt ratternd vor ihnen an.

Die Tür öffnete sich und ein Mann stieg aus. Er krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und schob seine Mütze in den Nacken. »Gude Morge, no schdeiga se mol oi.«

Das ließ sich Werner nicht zweimal sagen, nahm die hohen Trittstufen und sah sich im Bus um. Holzsäcke stapelten sich im hinteren Teil des Innenraums. Auch die alte Handkarre, die Onkel Henry ihnen überlassen, und gestern zum Bus gebracht hatte, stand dort. Sie war beladen mit ein paar Töpfen, einem Mantel und einem schäbigen Lederkoffer. Sitzbänke gab es nur in der vorderen Hälfte des Busses. Dort saßen bereits einige Frauen und schauten ihnen entgegen. Schade, es fuhren keine anderen Kinder mit. Die letzten beiden Bänke auf der rechten Seite waren frei. Seine Mutter setzte sich. Die kleine Helga kletterte auf den Platz neben ihr und schmiegte sich bei ihr an. Reinhold sah sich den Fahrerbereich an. Der Busfahrer schulterte einen der Holzsäcke und schleppte ihn nach draußen. Werner blieb an der Tür stehen und schaute ihm nach. An der Seite des Fahrzeuges öffnete der Mann eine Klappe und schüttete das Holz hinein. Er stieg wieder ein und wischte sich die Hände an seiner Cordhose ab. » So, älles hinsedze, jedzd gohds los.«

Werner rutschte auf den Fensterplatz der freien Bank. Sein Bruder setzte sich neben ihn. Wenige Minuten später, ließen sie Burladingen hinter sich. Wiesen und Felder zogen am Fenster vorbei. Dann säumten Bäume die Straße. Reinhold las in seinem Buch. Die kleine Helga spielte mit ihrer Stoffpuppe.

Werner tippte seiner Mutter auf die Schulter. »Iss es noch weit?«

»Mir komme bald zum Rheu und dann iss es nimmie weit.«

Wenn seine Mutter von bald und gleich sprach, konnte es noch ganz schön lange dauern. Er lehnte den Kopf an das Fenster und blickte in die Weinfelder.

Ein Schlag an seine Schläfe ließ Werner zusammenfahren. Er rieb sich die schmerzende Stelle, blinzelte und gähnte. Der Bus holperte, ratterte, wurde langsamer und blieb mit einem Ruck stehen.

»Zum Donner abr au, was isch jedzd los?« Der Busfahrer stieg aus und öffnete die Motorhaube. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder einstieg. »Es dud ma leid, abr mir müssed uf Hilfe warde.« Er kratzte sich am Hinterkopf.» Und des wird erschd morga der Fall sai. I geh zurügg zu däm Dorf durch des mr grad gfahra sind, um zu delefoniere.«

Werner stöhnte. Auf keinen Fall würde er hier sitzen bleiben. Sein Blick ging zu einem Feldweg. Dieser mündete in einen Wald. »Ich, geh e bissl in de Wald. Gesche mit?«

»Nää ich läs liewer.« Reinhold stieg mit ihm aus, setzte sich neben dem Bus ins Gras und schlug sein Buch auf.

Werner rannte auf den Feldweg zu.

»Geh net so weit fort«, rief ihm seine Mutter hinterher.

Er erkundete die Gegend, kletterte auf Felsen und testete seine Steinschleuder. Schade, dass es hier keine Obstbäume gab. Bald dirigierte ihn sein knurrender Magen zum Bus zurück.

Seine Mutter schnitt für jeden ein kleines Stück Schinken und eine Scheibe Brot ab.

Am Abend wurde es kalt im Bus. Die Frauen hüllten sich in ihre Mäntel ein. Seine Mutter nahm eines ihrer Wollkleider aus dem Koffer und wickelte Helga darin ein. Werner fand einen leeren Sack neben der Handkarre und breitete ihn auf dem Boden aus. Seinen Rucksack nutzte er als Kissen und deckte mit seiner Jacke den Oberkörper zu. Reinhold richtete sich auch eine

Schlafstelle auf dem Fußboden her. In der Nacht fror Werner und sein Magen knurrte fürchterlich.

Am nächsten Morgen traf der Monteur ein und reparierte den Motor. Endlich fuhren sie weiter. Werner wurde es etwas leichter ums Herz. Seine Mutter erzählte ihnen von der großen Brücke, die sie bald überqueren würden. Voller Vorfreude wartete er, bis diese in Sicht kam. Dann sah er den Rhein. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf dem Wasser. Unzählige Lichtreflexe tanzten auf den sanften Wellen. Alle Fahrgäste reckten die Köpfe. Aber was war das für eine seltsame Brücke? Sie lag auf der Wasseroberfläche! Jetzt erkannte Werner, dass es Boote waren. Bis zum gegenüberliegenden Ufer waren diese quer aneinandergereiht. Darüber lag eine Fahrbahn aus Holz. Alles schaukelte hin und her. Und wenn der Bus ins Wasser fiel? Er konnte zwar schwimmen, aber wie sollten sie herauskommen. Sein Herz klopfte heftig. Die Brücke kam immer näher. Gleich würden sie auf das schaukelnde Ungetüm fahren. Doch der Busfahrer hielt an und stieg aus. Jetzt sah Werner die Soldaten. Sofort erkannte er, dass es Franzosen waren. Mit geschulterten Gewehren standen sie vor einer Absperrung und schauten dem Fahrer entgegen. Das musste er sich genauer ansehen. Er sprang auf und lief zur Tür.

»Werner, du bleibsch do!« An der Stimmlage seiner Mutter konnte er erkennen, dass jede Widerrede zwecklos war. Dabei hätte er so gerne gehört, um was es ging. Wild gestikulierend redete der Busfahrer auf die Soldaten ein. Doch diese schüttelten ihre behelmten Köpfe.

»Was! Erscht Morga!«, rief der Fahrer.

Werner stöhnte. Das durfte nicht wahr sein. Es stand ihnen eine weitere Nacht im Bus bevor.

Gepolter riss Werner aus dem Schlaf. Er blinzelte, rappelte sich auf und schaute nach vorne, von wo der Lärm kam. Im fahlen Licht der Morgensonne sah er die Soldaten an die

Fahrertür klopfen. Der Busfahrer öffnete die Tür, unterhielt sich mit ihnen und wandte sich den Fahrgästen zu. »Es gohd weidr!«

Den Rücken fest an die Lehne gepresst, saß Werner auf dem Sitz und schaute auf das Wasser. Im Schritttempo ging es auf die Brücke zu. Nur noch einige Meter war sie entfernt. Dann holperte es und der Bus schwankte etwas. Mit beiden Händen krallte sich Werner an dem Holz der Sitzbank fest und hielt den Atem an. Doch der Bus wackelte längst nicht so doll, wie er befürchtet hatte. Er atmete aus und entspannte sich etwas. Wenige Minuten später erreichten sie das andere Ufer. Jetzt war es nicht mehr weit.

Zur Mittagszeit war es endlich so weit.

»Pirmasens« las Werner auf dem Ortsschild. Er drückte sich die Nase an der Fensterscheibe platt. Was er sah, nahm ihm die Luft zum Atmen. Statt der stolzen Häuser empfingen sie Berge von Steinen und Sand. Gras wucherte dort, wo früher Straßen waren. Alles sah fremd aus.

»Ach du liewer Gott!«, hörte er seine Mutter immer wieder sagen.

Aufgeregt redeten die Frauen durcheinander. Einige von ihnen weinten. Wer keinen Fensterplatz hatte, stellte sich, um besser sehen zu können. Am Messplatz hielt der Busfahrer an und forderte die Fahrgäste auf, nachzusehen, ob ihre Häuser noch stehen. Wer keine Unterkunft mehr habe, könne wieder mit zurückfahren.

Seine Mutter hielt eine Hand vor den Mund und ließ den Blick über die Trümmer schweifen. »Ach du liewer Gott, was machen mer dann jetzt? Wie soll ich des gonze Zeich in die Sonnestroß schaffe? Es gäbt jo kä Gehwäche mehr.« Ihr Blick ging zu Werner. »Geh und gugg, ob unser Haus noch steht. Wanns noch steht, frosche jemand im Haus, ob er uns helfe kann.«

Zögernd stieg er aus. Seine Knie zitterten. Er sah sich um. Wie früher an Gebäuden und Straßen orientieren, konnte er sich

nicht. Er schluckte. Ob von ihrem Haus auch nur noch ein Berg von Staub und Steinen übrig war? Er atmete tief durch und folgte dem schmalen Trampelpfad. Dieser führte zwischen den Trümmern hindurch. Immerhin, die Richtung wusste er noch. An einigen Stellen war er unsicher. Mit geschlossenen Augen rief er sich dann die Gebäude ins Gedächtnis, die einst hier standen. Oft kletterte er kurzerhand über die Trümmer, um eine ehemalige Straßenecke abzukürzen oder einen Fahrweg zu nutzen. Seine Schuhe waren staubig und seine Beine voller Schrammen. Das alles kümmerte ihn nicht. Jetzt war es nicht mehr weit. Gleich würde er wissen, ob sie noch ein zu Hause hatten. Wenn er sich nicht irrte, musste er zweimal abbiegen, um in die Sonnenstraße sehen zu können. Er nahm die erste Abzweigung und erstarrte. Der Straßenzug mit den hohen Gebäuden war in sich zusammengefallen. Über die Trümmer hinweg sah er direkt in seine Straße. Vier Häuser ragten zwischen den Steinbergen empor. Dort stand es, das große grüne Mietshaus. Ein befreiendes Lachen sprengte seine Brust. Werner wischte sich eine Träne von der Wange. Endlich wieder daheim.


Ein Gedanke zu “Zum Vorlesen lassen: Heimkehr

  1. Es ist schade, dass der Mensch nicht in der Lage ist,sein früher überlebenswichtiges Machtstreben zu zügeln,dass es immer wieder Kriege gibt, in denen so viel Leid und Ungerechtigkeit entsteht, wie in derGeschichte von Werner, den ich kennen lernen durfte

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