Zum Vorlesen lassen: Die traurigste aller traurigen Geschichten

Um euch die Sache zu erleichtern, könnt ihr sie nicht nur nachlesen, sondern euch auch vorlesen lassen. Eine Premiere!

Vorlesen lassen:

Und falls ihr es doch lieber lesen wollt:

Ich habe versprochen, die traurigste aller traurigen Geschichten zu schreiben. Vielleicht habe ich da den Mund doch ein wenig zu voll genommen, denn um eine seeehr traurige Geschichte zu schreiben, muss man schon seeehr traurig sein. So etwa wie der Seelefant aus Urmel aus dem Eis, der einsam und verlassen auf seinem Felsen im Meer sitzt und den ganzen Tag singt:

»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten Dass ich so trauhaurig bin«

Selbst diese Vorstellung stimmt mich nicht traurig genug, um eine traurige Geschichte zu schreiben. Nicht dass ich nie traurig wäre, weiß Gott, mitunter bin ich es. So traurig, wie es ein Mensch nur sein kann.

Ich liege bisweilen in meinem Bett, mein Brustkorb krampft sich zusammen, bis mein Herz schier nicht mehr schlagen möchte. Neben mir ist eine ganze Batterie an Papiertaschentüchern gestapelt, von denen ich eines nach dem anderen herausziehe, um die Tränen zu trocknen, die in Strömen fließen. Und um mir die Nase zu putzen. Der Berg an benutzten Tüchern liegt am Ende des Bettes und wird immer größer. Ich rolle mich zusammen wie ein Embryo und wünsche mir, die Erde möge mich verschlucken wie einen unwürdigen Wurm. Immer wieder schütteln mich Krämpfe, bis ich so erschöpft bin, dass ich nur noch regungslos da liege und an die Wand starre.

Ab und zu stehe ich auch auf und gehe ins Bad, spritze mir Wasser ins Gesicht, um die brennenden Augen zu kühlen. Ich sehe in den Spiegel und denke, oh Mann, heute siehst du wieder echt scheiße aus. Das sind die Momente, in denen ich mich bedauere, weil die Welt mich schlecht behandelt hat. Oder weil ich mich schlecht behandelt habe. Manchmal auch, weil ich jemanden schlecht behandelt habe. Weil Hoffnungen nicht erfüllt wurden, weil Träume zerplatzt sind wie eine Seifenblase. Weil das Leben mir etwas genommen hat, was mir wichtig war. Oder der Tod. Weil ich das Gefühl habe, auf keinen Fall unter diesen Umständen weiterleben zu können. Oder zu wollen.

Irgendwann falle ich vor Erschöpfung in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen öffne ich die Augen und fühle mich wie betäubt. Ich habe Kopfschmerzen, alle Glieder tun mir weh, die Augen fühlen sich geschwollen an. Ächzend steige ich aus dem Bett. Mechanisch nehme ich eine Dusche, räume die Papiertaschentücher weg, stelle die Kaffeemaschine an. Dann öffne ich die Tür, um die Zeitung reinzuholen.

Ich blinzle in die Sonne. Die Strahlen wärmen mein schmerzendes Gesicht. Die Stimmung da draußen steht in scharfem Kontrast zu meiner eigenen, fast ärgert es mich. Diese Welt kümmert es nicht, wie ich mich fühle. Sie dreht sich ungefragt weiter.

Die Amsel, die ich den ganzen Winter durchgefüttert habe, steht nur wenige Meter von mir entfernt im Rasen und stochert nach Würmern. Erstaunt betrachtet sie mich, um dann unbeirrt ihr Werk fortzusetzen. Die Blüten der Rosensträucher bilden einen pinkfarbenen Teppich, der einen betörenden Duft verströmt. Bienen summen darüber hinweg. Die Zweige des Obstbaumes senken sich schon wieder unter der Last der Früchte. Schmetterlinge flattern direkt vor meiner Nase, als ob sie für mich einen lustigen Tanz aufführen wollten. Die Nachbarin sieht mich in der Tür stehen, winkt und wünscht mir einen guten Morgen. Gerade fährt die Müllabfuhr vorbei. Der Müllmann grinst und zwinkert mir zu. Vermutlich sehe ich aus, als könnte ich ein bisschen Aufmunterung brauchen.

Ich lächle, gehe in die Küche und fülle meine Kaffeetasse. Der Duft steigt mir in die Nase. Auf der Oberfläche steht eine dichte, fluffige Schaumkrone aus Milch, überpudert mit ein wenig Kakao und Zimt. Ich freue mich schon auf das Kitzeln, das der Schaum auf der Zunge hinterlässt.

Irgendwie geht es immer weiter.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert