Eine sehr schöne und motivierende Geschichte von Sylvia Mardan. Ihr könnt sie nicht nur nachlesen, sondern euch auch vorlesen lassen.
Vorlesen lassen:
Und falls ihr es doch lieber lesen wollt:
Veronika trocknete das Geschirr ab und räumte es in den Schrank. Der Geruch nach Bratkartoffeln hing wie ein unsichtbarer Schleier in der Luft und weckte Erinnerungen. Roland hatte dieses Gericht über alles geliebt. Ganz gleich, was sie sonst noch auf dem Tisch gestellt hatte, solange es knusprig geröstete Kartoffeln gab, ist er glücklich gewesen. Ein beklemmender Schmerz kroch in ihre Brust. Ein Jahr war seit seinem Tod vergangen und dennoch vermisste sie ihn bei fast jeder kleinen Handlung und in den alltäglichsten Momenten. Veronika holte tief Luft, strich sich eine graue Haarsträhne hinter das Ohr und verdrängte die schmerzlichen Gedanken. Ihr Blick glitt zur Küchenzeile. Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster über dem Spülbecken und tauchten das Buchenholz der Schränke in einen warmen Glanz. Die Blumen auf dem kleinen Esstisch vor der Balkontür reckten sich dem Licht entgegen. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Sie betrat das Wohnzimmer und ließ sich in ihren Sessel vor den bodentiefen Fenstern sinken. Ihr Blick ging zu dem Bücherregal zu ihrer Rechten. Sollte sie nicht endlich einmal wieder ein Buch lesen? Früher hatte sie die Geschichten regelrecht verschlungen, doch in den letzten Monaten wollten die gelesenen Worte sich nicht in ihrem Kopf zusammenfinden. Wäre Roland noch hier, würden sie jetzt einen Spaziergang machen und sich anschließend in einem Café ein Stück Torte gönnen. Mit ihm zusammen war es nie langweilig gewesen. Sie hatte es geliebt, sich von seiner Unternehmungslust anstecken zu lassen. Das Läuten des Telefons neben ihr riss sie aus ihren Gedanken. Sie griff nach dem Hörer. Der Name ihrer Freundin auf dem Display zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. »Hallo Anne, wie schön deine Stimme zu hören.«
»Hallo meine Gute!«
Veronika wechselte den Telefonhörer zu ihrem guten Ohr und schlug die Beine übereinander. »Wie war deine Kreuzfahrt?«
»Die war toll, sag ich dir. Ich war ständig auf Achse und habe viele schöne Orte gesehen. Aber sag, wie ist der Umzug gelaufen?« Annes Neugier war nicht zu überhören.
Veronika schmunzelte. »Der ist gut gelaufen.«
»Das freut mich zu hören. Hast du dich denn gut eingelebt?«
Das Knarzen von Leder drang durch das Telefon. Dieses Geräusch ließ ein Bild von Anne in ihrem Schreibtischsessel vor Veronikas ihrem inneren Auge entstehen. »An sich schon. Ich liebe meine kleine Wohnung und habe in der nächsten Umgebung alles, was ich brauche.«
Anna räusperte sich. »Das hört sich gut an, aber so richtig begeistert nun doch nicht. Raus mit der Sprache, wo drückt der Schuh?«
Veronika erhob sich und ging in der Wohnung umher. »Na ja, ich kenne hier niemanden und fühle mich oft einsam.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Gerade eben habe ich darüber nachgedacht, was Roland und ich alles zusammen unternommen haben.«
»Stimmt, ich kann mich noch gut erinnern. Weißt du noch, wieviel Spaß wir hatten, als wir drei damals zusammen losgezogen sind?«
Veronika lächelte. »Und ob – an diese Zeit denke ich oft zurück.«
»Und die Treffen am Sonntagnachmittag in unserem Café. Dort hatten wir Mädels unseren Spaß. Gibt es das Café eigentlich noch?«, fragte Anne.
»Ja, es hatte inzwischen mehrere Besitzer. Letztes Jahr wurde es umgebaut und mit einer wunderschönen Terrasse ergänzt.«
Einen Moment war es still, dann fragte Anne: »Sag mal, wie wäre es, wenn du dort ab und zu einkehrst und dir ein gutes Stück Torte gönnst?«
»Ich weiß nicht, die Vorstellung allein hineinzugehen behagt mir nicht.« Veronika blieb vor dem Fenster stehen.
»Vielleicht kommst du mit jemanden ins Gespräch, wenn nicht, ist es auch gut. Du warst unter Menschen und hattest eine schöne Zeit.«
Veronika atmete tief durch und stellte sich vor, wie sie in das Café trat, und alle Gäste innehielten und sie anstarrten. »Sicher hast du recht, aber wie gesagt, das behagt mir nicht.«
»Glaub mir, du schaffst das. Hinterher fragst du dich, warum du das nicht bereits früher gemacht hast«, setzte Anne nach.
Veronika seufzte. »Ich wollte ich hätte einen so großen Freundeskreis wie du. Da findet sich immer jemand, der mitgeht.«
Anne lachte. »Stimmt, aber keiner von meinen Freunden hat damals, als ich hergezogen bin an meine Tür geklopft, um sich vorzustellen. Ich war auch allein. Meine Freunde lernte ich nach und nach kennen. Wenn man einsam ist, gibt es nur eins: Raus aus der Bude und rein ins Leben.«
Eine halbe Stunde später legte Veronika das Telefon neben sich ab und atmete tief durch. Dies fiel ihr wesentlich leichter als vor dem Gespräch mit ihrer Freundin. Sie erhob sich, trat ans Fenster und sah die Straße entlang. Eine junge Frau schob ihren Kinderwagen vorbei. Auf dem Dorfplatz gegenüber saßen zwei ältere Damen auf einer Bank und unterhielten sich. Das Wetter lud regelrecht zu einem Spaziergang ein. Sie könnte Richtung Café gehen und dort entscheiden, ob sie hineingehen möchte. Erleichtert einen Plan zu haben zog sie sich rasch um und machte sich auf den Weg.
Nach wenigen Minuten kam das Café in Sichtweite. Das Licht der Sonne spiegelte sich in den Bogenfenstern. Erst als sie nähergekommen war, konnte sie einen Blick in den Gastraum erhaschen. Es waren nur einige Tische besetzt. Freie Plätze gab es also noch. Sollte sie wirklich hineingehen? Noch ein paar Schritte bis zum Eingang. Veronika stockte für den Bruchteil einer Sekunde und ging daran vorbei. Im gleichen Augenblick ärgerte sie sich über sich selbst und schüttelte den Kopf. Das war doch albern. Sie macht kehrt und ging zurück. Eine korpulente Frau ihres Alters ging zielstrebig auf das Café zu, machte vor dem Eingang halt und trat ein. Ob dort jemand auf sie wartete? Veronika schlenderte an der Fensterfront vorbei. Die Frau saß allein an einem Tisch. Nun hatte sie den Eingang wieder erreicht. Ohne lange zu überlegen, öffnete sie die Tür und trat ein. Der verlockende Duft nach frisch gebrühtem Kaffee hüllte sie ein. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Tisch vor dem Fenster. Zielstrebig steuerte sie darauf zu und setzte sich. War doch gar nicht so schwer und es starrte sie auch niemand an. Warum hatte sie das angenommen? Sie ließ den Blick durch den Raum gleiten. An dem Tisch neben ihr bestellte die Frau, die vor ihr eingetreten war, einen Tee. Einige Herren spielten Karten. Begleitet von einem hohlen Poltern, schlug einer nach dem anderen seine Karte ab. Hinter der Theke summte der Kaffeeautomat. Am ovalen Stammtisch, neben dem Eingang saß eine Gruppe junger Mädchen. Sie unterhielten sich lebhaft und kicherten. Veronika schmunzelte. So war es damals mit ihren Mädels.
»Was darf ich ihnen bringen?« Eine junge Frau mit roten Haaren lächelte sie an.
Erst jetzt nahm Veronika wahr, dass sie auch gelächelt hatte. »Eine Tasse Kaffee, bitte und ein Stück Schwarzwälder.«
»Sehr gerne.« Die Dame nickte und ging zum Tresen zurück.
Es war schön, hier zu sitzen, und aus dem Fenster zusehen. Einige Passanten schlenderten daran vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte sie die junge Frau mit dem Kinderwagen. Ihre Bestellung wurde gebracht und
Veronika genoss den sahnigen Geschmack ihres Kuchens und den heißen Kaffee. Im Augenwinkel nahm sie wahr, dass die Dame vom Tisch nebenan zu ihr schaute. Sie sah zu ihr, lächelte und nickte.
»Bist du das, Veronika?« Die Stirn der Dame lag in Falten.
Verwundert musterte Veronika das Gesicht der Fremden. Die hellgrauen Augen sahen sie fragend an. »Ja, mein Name ist Veronika. Aber wer sind …?«
»Nein, nicht wahr! Das ich dich hier treffe.« Ein helles Lachen füllte den Raum.
Veronika hielt inne. Dieses Lachen kannte sie. Wieder musterte sie das Gesicht. Die grauen Augen, das Muttermal auf der linken Wange. Das konnte doch nicht sein. Sie schluckte »Ruthchen?«
»Ja, ich bin‘s. Wobei mich schon lange keiner mehr Ruthchen genannt hat.« Sie tätschelte mit beiden Händen ihren Bauch. »Das kleine mageren Ding von damals versteckt sich darunter.« Wieder lachte sie und Veronika stimmte ein.
»Ich habe dich hier noch nie gesehen. Das ist mein Stamm-Café musst du wissen. Komm, setzt dich zu mir.«
Diese Einladung nahm Veronika sehr gerne an.
»Erzähl, wie geht es dir? Seit Roland und du weggezogen seid, habe ich euch nicht mehr gesehen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde flammte dieser altbekannte Schmerz in Veronikas Brust auf. »Roland ist letztes Jahr gestorben.«
»Oh, das tut mir leid. Das ist sicher schwer für dich. Ich hoffe du bist nicht so viel allein in eurem großen Haus.«
Veronika schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich wohne seit drei Wochen hier um die Ecke.«
»Ach nein! Seltsam, dass wir uns noch nicht begegnet sind.«
»Na ja, ich bin meistens zu Hause.«
»Dann ist es gut, dass du heute eine Ausnahme gemacht hast.«
»Das war Annes Idee.«
Ruths Augenbrauen gingen nach oben. »Du hast Kontakt zu Anne. Das ist aber schön. Wohnt sie noch in Berlin?«
»Ja, immer noch in der kleinen Wohnung in der achten Etage.
Vorhin habe ich mit ihr telefoniert und wir haben von unseren Treffen hier im Café geredet.«
Wieder füllte das Lachen der Mädchen den Gastraum.
Ruth grinste. »Oh ja, und bei uns ging auch so lustig zu.«
Veronika atmete tief durch. »Ich bin so froh, dich hier getroffen zu haben. Anne hatte mal wieder recht.«
»Warum, was hat sie gesagt?«
Veronika sagte: »Wenn man einsam ist, muss man raus aus der Bude und rein ins Leben.«
Nun war es Ruth, die mit ihrem Lachen den Raum füllte. »Typisch Anne, aber recht hat sie.«