Das hier ist eine etwas längere Geschichte, aber ich verspreche: es lohnt sich. Ihr könnt nicht nur nachlesen, sondern euch auch vorlesen lassen. Die Geschichte stammt von Rita Gutsmuths, gelesen mit der wundervollen Stimme von Sylvia Mardan.
Vorlesen lassen:
Und falls ihr es doch lieber lesen wollt:
Herr Höger, ein alter Mann von 82 Jahren, lebte in einer Großstadt, etwas außerhalb der Stadtmitte in einem Mehrfamilienhaus. Er war für sein Alter rüstig, aber allein. Seine Frau war vor 2 Jahren gestorben, seine Tochter lebte in Australien. Vor einigen Wochen musste er obendrein seinen geliebten Hund einschläfern lassen. Dieser war schon alt gewesen und hatte vielerlei Gebrechen gehabt, so dass es eine Erlösung für ihn war.
Jetzt war er ganz allein. Viele seiner Freunde waren bereits gestorben, wohnten irgendwo in der Nähe Ihrer Kinder oder waren in ein Seniorenheim umgezogen. Versorgen konnte er sich so einigermaßen. Was er zum Leben benötigte, ließ er sich von einem nahegelegenen Supermarkt bringen. Kochen konnte er. Das musste er in der Zeit lernen, als seine Frau krank und pflegebedürftig geworden war. Fast vier Jahre hatte er sie gepflegt – bis zu ihrem Tode. Aber selbst Auto fahren wollte er nicht mehr.
Da er in der dritten Etage wohnte, konnte er auf Grund seines Alters nicht mehr so oft unter Menschen kommen. Mehrmals Treppensteigen am Tag konnte er nicht. So waren sein Handy und das Fernsehen eigentlich alles, was ihn noch mit der Außenwelt verband.
Oft saß er, in Gedanken versunken am Fenster, um das Leben auf der Straße zu beobachten. Er vereinsamte. Manchmal dachte er, wie gut es sein Hund hatte. Er durfte gehen, als er alt war, und ich sitze hier, habe niemand und es braucht mich niemand. Was soll ich hier noch auf dieser Welt?
Traurig dachte er an das kommende Weihnachtsfest. Seine Tochter rief natürlich öfter mal an. An Weihnachten telefonierte sie per Skype mit ihm, damit er die Enkel sehen konnte und auch mal den Schwiegersohn. Seine Tochter, wie sie sich verändert hatte im Laufe der Zeit und die Enkel kannte er nur durch das Telefon. Die Entfernung war einfach zu groß zwischen Nürnberg und Australien. Ein Flug nach Australien traute er sich nicht mehr zu, und was erschwerend dazu kam, die Krankheit seiner Frau hatten ihre ganzen finanziellen Reserven aufgebraucht, so dass er erst wieder etwas ansparen musste.
Herr Höger verfiel in eine große Melancholie.
So saß er eines Tages am Fenster, als es draußen bei ihm an der Tür klopfte. Das kam sehr selten vor. Meistens war es der Briefbote oder ein Vertreter, der ihn etwas aufschwatzen wollte. »Nanu, wer ist das denn, will man mir mal wieder was verkaufen.« Mit diesem Gedanken erhob er sich und lief zur Tür, um durch den Spion zu sehen, wer das wohl war.
Doch er sah nur den leeren Flur. Gerade als er sich abwenden wollte, hämmerte es erneut an der Tür. Mit einem Blick durch den Spion konnte er abermals niemanden erkennen. Langsam wurde er böse, weil er vermutete, man wolle ihm einen Streich spielen. Da klopfte es wieder und jetzt konnte er das Weinen eines Kindes hören.
Er öffnete die Tür und sah in das Gesicht eines weinenden, kleinen Mädchens. Ein Stöpsel von höchstens sieben Jahren. Sie hatte eine kleine Stupsnase, an der Tränen herunterliefen, blonde Haare, die seitlich zu Rattenschwänzchen zusammengebunden waren. In den großen blauen Augen standen Tränen und das Gesichtchen war schmutzig. Ebenso wie ihr roter Anorak und ihre blauen Jeans.
Das Kind reichte ihm nur bis zum Nabel. Nun war ihm klar, warum er niemanden durch den Spion gesehen hatte.
Er beugte sich zu der kleinen Gestalt runter und fragte vorsichtig: »Kind, was ist los? Warum weinst du?«
Vor lauter Weinen konnte sie zuerst nicht antworten. Die Tränen liefen ihr die Wangen herunter und hinterließen eine helle Spur auf Ihrem kleinen Gesicht. Während des Weinens zog sie ständig die Nase hoch.
Da holte er ein sauberes Taschentuch aus seiner Hosentasche, gab sie ihr und sagte: »Putz dir mal die Nase und die Tränen aus dem Gesicht und dann versuche mir zu sagen, warum du so weinst. So, dass ich dich auch verstehe. Aber zuerst sag mir, wie du heißt, und warum du gerade bei mir angeklopft hast?«
Als die Kleine die Nase geputzt und ihre Augen ausgewischt hatte, meinte sie: »Ich heiße Klara und wohne im vierten Stock, ganz oben. Bei dir habe ich geklopft, weil ich wusste, dass du zu Hause bist. Meine Mama ist am Arbeiten und ich komme nicht mehr in die Wohnung.«
»Wieso kommst du nicht in die Wohnung, hast du keinen Schlüssel?«
»Ich hatte einen«, antwortete Klara und fängt wieder an zu weinen. »Aber auf dem Nachhauseweg von der Ganztagsschule haben mich zwei Jungs verfolgt. Sie wollten Geld von mir, aber ich habe doch keines. Als sie das merkten, rissen sie mir den Schlüssel vom Hals und warfen ihn in den Fluss. Dann haben sie noch meinen Schulranzen mitgenommen.« Sie schnieft und man merkte ihr die Angst an, aber sie sprudelt die Worte nur so raus. »Ich hatte furchtbare Angst und habe mich auf dem Spielplatz in einer Röhre versteckt bis sie weg waren und bin dann nach Hause gerannt. Zu klingeln habe ich mich nicht getraut, aber als jemand das Haus verlassen hat, habe ich mich schnell durch die Tür gequetscht, und jetzt bin ich hier.«
Erstaunt reibt sich Herr Höger die Schläfen. »Aber wieso gerade ich?«
Da meint die Kleine ganz treuherzig: »Ich habe immer beobachtet, wie lieb du zu deinem Hund warst und der war klein, da hab ich gedacht, vielleicht bist du zu mir auch lieb, weil ich klein bin
Jetzt muss Herr Höger lachen. Diese kindliche Logik fand er wirklich toll. Eigentlich würde er die Kleine gerne mit in seine Wohnung nehmen, aber ohne die Eltern zu fragen, möchte er das nicht. Wenn das jemand sehen würde, könnte man sonst was von ihm denken.
Da stupst ihn das Mädchen an und meint, »Wie heißt du denn, sag mir deinen Namen, meinen Namen habe ich dir ja auch gesagt.«
Das bringt ihn erneut zum Lachen und das erste Mal, seit er seinen Hund nicht mehr hatte, fühlte er sich wieder lebendig. Er bückte sich zu Klara runter, seine alten Knochen machten ihm zwar zu schaffen, aber er wollte auf Augenhöhe mit ihr sein und meinte: »Mein Name ist«, er hält kurz inne, eigentlich wollte er gerade Herr Höger sagen, besinnt sich dann aber und fährt fort, »Stefan, aber sag, wo sind deine Eltern?«
Da meint Klara: »Ich habe nur meine Mama, mit ihr wohne ich ganz oben, da war die Wohnung billiger, aber die ist jetzt bei der Arbeit. Deshalb hatte ich ja den Schlüssel!« Jetzt fängt sich ihr kleines Gesichtchen wieder einzutrüben und die Tränen glänzen verdächtig in den Augenwinkeln.
Herr Höger will sie ablenken und fragt: »Sag hast du die Telefonnummer von deiner Mutter, dann könnten wir sie anrufen und sie könnte uns sagen, was wir tun sollen. Was meinst Du?«
Ein Strahlen geht über das kleine Gesichtchen, und sie beginnt eifrig in den Taschen Ihres Anoraks zu wühlen, um dann einen zerknüllten Zettel in die Hand von Herrn Höger zu legen. »Da steht die Telefonnummer meiner Mama drauf.«
Er sagt: »Bleibe kurz hier stehen ich hole mein Handy und dann rufen wir deine Mama an.« Unter einem Ächzen steht er auf, schließlich bin ich ja keine achtzehn mehr, geht ihm durch den Kopf. Er beeilt sich, damit er gleich mit Ihr telefonieren kann. Während er das Handy von der Flurkommode holt, sieht er, wie die Kleine ganz vorsichtig in den Flur schaut.
Sie bemerkt seinen fragenden Blick und meint dann: »Ich komme aber nicht rein, das hat mir meine Mama verboten.«
Zusammen setzen sie sich auf die Treppe. Er tippt die Nummer ein und gleich ist eine Frauenstimme in der Leitung, welche sofort ganz aufgeregt fragt: »Wie kommen sie an meine Telefonnummer? Die hat normalerweise nur meine Tochter.«
Er versucht sie zu beruhigen, um ihr dann den Sachverhalt zu erklären. Sie sagte, sie käme sofort nach Hause und hat ihn gebeten, darauf zu achten, dass die kleine bliebe, wo sie im Moment ist. Dann durfte Klara einige Worte mit ihrer Mama wechseln.
Es vergingen kaum zehn Minuten, als eine jüngere Frau die Treppe herauf gestürmt kommt. Sie ist völlig aufgelöst und außer Atem. Sofort wird sie freudig von Klara begrüßt. Herr Höger wird leicht verlegen. Bei Klara fiel es ihm leicht zu reden, am Telefon auch, da ist man mehr oder weniger anonym, aber das Reden mit einer Fremden ist er nicht mehr gewöhnt. Mit einem leichten Holpern in der Stimme bittet er die Frau und Klara mit in die Wohnung zu kommen. Er hatte noch Kuchen, und einen Kaffee konnte er auch kochen. Nach einer kurzen Pause traten beide mit ihm in die Wohnung. Kurze Zeit später saßen alle im Esszimmer zusammen und ließen sich den Kuchen mit Kaffee schmecken. Klara bekam eine Limonade.
Klaras Mutter stellt sich vor: »Ich heiße Eleonore Senger.«
Dann stellt er sich vor: »Mein Name ist Stefan Höger.«
Dann beginnt sie zu erzählen: »Klara hat ihnen bestimmt schon erzählt, dass wir ganz oben unter dem Dach wohnen. Wir sind nur zu zweit, der Vater von Klara hat sich kurz bevor Klara geboren wurde, aus dem Staub gemacht. Leider hat er auch nie nach ihr gefragt. Darunter leidet sie schon. Andere haben einen Papa der was mit ihnen unternimmt, da bleibt sie natürlich auf der Strecke. Ich muss den Lebensunterhalt für uns beide verdienen, da bleibt nach Feierabend nicht mehr viel Zeit für sie.« Sie seufzte und fuhr fort: »So hatte ich mir mein Leben und das Leben meines Kindes nicht vorgestellt, dass sie als Schlüsselkind leben muss. Gerne würde ich ihr mehr bieten.« Energisch wischt sie sich über die Augen. »Jetzt sind sie an der Reihe mit Erzählen.«
Er nahm wahr, dass Klare neugierig ist und ständig auf dem Stuhl hin und her rutscht und zappeln. Herr Höger merkt es und meint: »Ich glaube du bist neugierig. Willst du dich bei mir umschauen?«
Klara nickt freudig und sah zu ihrer Mutter. Diese gibt ihr mit Kopfnicken zu verstehen, dass sie einverstanden ist. Also geht Klara neugierig auf Suche.
Während dessen erzählt Herr Höger der Mutter, dass er seine Frau bis zu deren Tod gepflegt habe, dass seine Tochter mit ihrer Familie in Australien lebe und dass er vor nicht allzu langer Zeit auch noch seinen geliebten Hund hat einschläfern lassen müssen. Mangels an ihn gestellte Aufgaben fühle er sich depressiv. Er endet mit den Worten: »Ich hätte mir gerne nochmals einen Hund geholt, aber ich könnte keine langen Spaziergänge mehr mit ihm machen und was ist, wenn er noch lebt, wenn ich schon gestorben bin, was wird dann mit ihm? Das kann ich einem Tier nicht antun.« Traurig fügte er hinzu: »Wenn mein Leben weiterhin so bleibt, will ich nicht mehr weiterleben.«
Erschrocken sieht ihn Klaras Mutter an. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass Menschen, die ein gesichertes Einkommen durch eine Rente haben und in einer Eigentumswohnung leben, auch große Probleme haben können. Ihr wird klar, dass dies alle Generationen betrifft. Da blitzt ihr ein Gedanke durch den Kopf und mit einer Frage auf den Lippen wendet sie sich aufgeregt an ihn: »Ich glaube wir haben uns jetzt mal beschnuppert und ich hätte da so eine Idee. Würden sie sich zutrauen Klara am Nachmittag zu beaufsichtigen und die Aufgaben zu kontrollieren? Sie müssen es nicht umsonst tun. Viel Geld könnte ich nicht zahlen, aber ich könnte für Sie einkaufen gehen und ab und an Ihre Wohnung sauber machen, was halten Sie davon?« Ängstlich erwartet sie seine Antwort. Wird er böse sein? Wie wird er reagieren? Erstaunt bemerkt sie, dass ein Leuchten über sein Gesicht geht. Dann geschieht etwas, womit sie nicht gerechnet hätte. Ein paar Tränen laufen ihm über die Wangen. Ganz gerührt ist er.
Er räuspert sich. »Sie vertrauen mir Ihr Kind an? Ich darf mich um sie kümmern? Wissen sie eigentlich, wie groß meine Freude darüber ist? Ich freue mich so sehr, das ist mein schönstes Weihnachtsgeschenk. Aber Geld will ich nicht, über das andere Angebot können wir noch reden.« Dann wandte er sich Klara zu, welche zwischenzeitlich ihre
Erkundungstour beendet hatte. »Willst du das überhaupt? Dich hat man ja noch gar nicht gefragt. Ich würde gerne mit dir Hausaufgaben machen, etwas mit dir spielen. Sogar Essen kann ich für dich kochen.« Hier stoppt er kurz, mit einem Blick auf die Mama und meint er dann: »Eigentlich könnte ich für uns alle drei kochen, dann hätten Die etwas mehr Zeit für Klara. Was sagst du dazu Klara?«
Die Kleine steht von ihrem Stuhl auf, kommt auf ihn zu, krabbelt auf seinen Schoß und drückt ihm mit den Worten »Oh, ist das toll, auch wenn ich keinen Papa habe, jetzt habe ich aber einen Opa, juhu!«, einen Kuss auf beide Wangen.
Ganz selig ist Herr Höger, nachdem sich Klara und ihre Mutter von ihm verabschiedet haben, um in ihre Wohnung zu gehen. Jedoch nicht ohne das Versprechen am Abend nochmals zu ihm hereinzuschauen.
Lächelnd sieht man ihn am Tisch sitzen. Durch sein Kopf laufen nun mengenweise Ideen.
Ja, er würde für sie alle drei kochen. Bei ihm könnten sie dann essen, so dass er nicht allein am Tisch sitzen musste. Vielleicht würden sie sogar bei ihm und mit ihm Weihnachten feiern. Für Klara würde er gleich morgen ein schönes Geschenk besorgen. Eventuell einen neuen Ranzen. Jetzt machte er sogar Pläne für das Frühjahr, vielleicht konnte er mit der Kleinen in den Zoo gehen oder auf einen Spielplatz. Wenn er dann auch die Strecke nicht laufen konnte, schließlich gab es ja Taxen. Jetzt machte das Leben wieder Spaß. Er konnte Pläne machen. So wurde dieses Ereignis das beste Weihnachtsgeschenk, das sich ein alter Mensch nur wünschen konnte. Er wurde gebraucht. Seine Einsamkeit hatte sich dadurch auf wunderbarerweise aufgelöst.