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Die gute alte Zeit, an die wir uns erinnern, war eigentlich eine, die wir eher in die Kategorie „Schlechte Zeiten“ einstufen würden. Im Rückblick und verglichen mit den heutigen „Guten“ Zeiten zeigt sich, dass die nicht ohne Einschränkungen als segensreich empfunden werden. Wir erinnern uns, dass es in den schlechten Zeiten von damals auch manches gab, was gut war und was wir heute vermissen. Auch wenn sich wohl niemand wünscht, dass sie wiederkommen.

Die Grauen zweier Weltkriege, kurz hintereinander, und die Entbehrungen der Nachkriegszeiten haben Generationen geprägt. Auch die Zeitzeugen, die damals noch Kinder waren. Zu ihrem Alltag gehörten Fliegeralarm, Artillerie–Beschuss, Luftschutzkeller und Tiefflieger-Angriffe, Angst und Hunger, das Leid der vielen Familien, die einen oder mehrere Angehörige verloren hatten oder nichts über ihr Schicksal wussten. Viele Familien mussten aus ihrer Heimat flüchten oder waren aus ihr vertrieben worden.

Wer das selbst erlebt hat, ist sich bewusst, wie kostbar der Frieden ist, in dem wir seitdem in unserem Land leben können. Er sieht die Bilder und Berichte über die Kriegsgeschehen der heutigen Zeit rund um den Erdball und ihre Tragweite wohl mit anderen Augen und Gefühlen als die Nachgeborenen.

Hilfe, um das Erlebte aufzuarbeiten, gab es für die Betroffenen nicht. Es musste verdrängt werden. Die meisten Erwachsenen wollten damals nicht darüber reden. Für sie ging es zunächst um ihr Überleben und das der Familie. Um Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf und etwas zum Wärmen. Fremde Menschen wurden bei Bewohnern mit noch intaktem Wohnraum „Einquartiert“ oder mussten in Notunterkünften eng zusammenrücken. Eigene Interessen und Ansprüche mussten der Gemeinschaft untergeordnet werden. Die Menschen mussten sich gegenseitig unterstützen. Zunächst um zu überleben. Später, um aus den Trümmern eine neue Lebensgrundlage aufzubauen.

In diese Zeit gehören:

• Lebensmittelmarken, mit denen jeder seinen zugeteilten Anteil an den verfügbaren Grundnahrungsmitteln kaufen konnte.
• „Hamstertouren“ zu den Bauern aufs Land oder Tauschgeschäfte auf dem Schwarzen Markt, sofern man noch etwas zum Tauschen hatte.
• Mütter, die es trotz der Not und dem Mangel immer wieder schafften, dass ihre Kinder etwas zum Essen hatten. Und selbst an Hunger litten.
• Eine große Anzahl an „Schlüsselkindern“, die sich nach Schulschluss um den Haushalt und um die jüngeren Geschwister kümmern mussten, während ihre Mütter bei der Arbeit waren.
• „Kindergärten“, sofern vorhanden, in denen es kein Spielzeug gab. In denen eine Kindergärtnerin in der Regel mehr als 50 Kinder allein betreute.
• Notdürftig hergerichtete Räume, in denen in überfüllten Klassen unter einfachsten Bedingungen und oft im Schichtbetrieb unterrichtet wurde.
• Eltern, die sich trotz ihrer Not das Schul-, Bücher- und Fahrgeld vom Mund absparten, um ihre Kinder auf eine Höhere Schule schicken zu können.

In diese Zeit gehören aber auch die Care–Pakete und die Notversorgung der Berliner Bevölkerung durch die „Luftbrücke“ der Amerikaner und die von den Quäkern aus Amerika organisierte „Schulspeisung“ für Kinder, der Riegel Schokolade von einem Soldaten der Besatzungsmacht, vor allem der Marshallplan und die Hilfen zum Wiederaufbau durch die Siegermächte. Und die Währungsreform.

Kind zu sein, bedeutete in dieser Zeit kratzige Pullover aus Zuckersäcken, eine Hose aus alten Wolldecken, ein Kleid aus Fahnenstoff und gebrauchte Damenschnürstiefel für Buben oder barfuss laufen. Auch strenge Regeln und Gehorsam, früh Verantwortung übernehmen müssen im täglichen Überlebenskampf und bemüht sein, die Eltern zu entlasten. Aber auch viel mehr Freiraum als heute, und sich zu erproben. Und draußen gemeinsam mit anderen Kindern zu spielen und aus allem Möglichen immer neue Spiele zu erfinden.

Weltbild und Verhalten werden weitgehend von den Lebensumständen der jeweiligen Zeit geprägt. War es früher der Mangel an Informationen, fällt es heute unendlich schwer, sich aus der Fülle daran eine eigene Meinung zu bilden. Unter dem zusätzlichen Druck der rasanten Veränderungen kann heute schnell die Orientierung verloren gehen. Immer aber hat alles eine Ursache und einen geschichtlichen Hintergrund. Beides zu hinterfragen hilft, die Zusammenhänge und den eigenen Standpunkt besser zu verstehen und eigene Entscheidungen zu treffen. Denn wenn sich die Zeiten auch ändern, die grundsätzlichen Probleme der Menschen und die Verantwortung, sie zu lösen, sind geblieben.