Eine Gardinengeschichte

Dagmar Voigtländer hat in ihrer Kindheit und Jugend viel Zeit in der Pfalz verbracht. Dazu ist ihr eine Geschichte über ihre Großmutter über Gardinen in der Nachkriegszeit eingefallen. (Anmerkung von Sabine Veit)

„Oma, was wollen wir jetzt noch putzen, das Küchenfenster, oder noch schnell den Küchenboden?“ Alexa leerte den Putzeimer in die Spüle und sah ihre Großmutter fragend an.

„Nein mein Kind, für heute ist es genug, mein Rücken streikt und ich hab jetzt keine Lust mehr! Die Fenster sind auch nächste Woche noch schmutzig und so lange man noch durchsehen kann, stört mich das nicht. Jetzt setz dich her, wir machen mal Pause und erzählen ein bissel.“

Wie jede Woche war Alexa bei ihrer Großmutter aufgetaucht wie das Rotkäppchen, nur dass der Korb nicht nur Kuchen und Wein, sondern auch Putzmittel, Wischlappen und Schwämme enthielt.  „Ich schenk schon mal den Kaffee ein und du schneidest uns bitte von dem herrlichen Sandkuchen zwei schöne große Stücke ab! Den haben wir uns jetzt verdient“, bemerkte Oma und lächelte verschmitzt. „Das duftet ja verführerisch, o weier, wie soll ich mich da nur beherrschen und nur ein Stück essen?“ Teils hungrig, teils verzweifelt schaute Alexa auf ihr Stück Kuchen und nach kurzem Zögern biss sie herzhaft hinein. Schlanke Linie, das war etwas für Anfänger! „Nach dem Zuckerschock muss ich nachher wieder eine Runde extra joggen.“ Alexa und verzog ihr Gesicht in komischer Verzweiflung.

„Ach Kind, das tut mir leid“, erwiderte ihre Großmutter. „Weißt du, als ich in deinem Alter war, da hätte ich sicher drei oder vier Stücke essen können, ohne anzusetzen. Ich musste so oft schnell ….Oma verstummte. Ihre Hände hatten einen Zipfel der Tischdecke geschnappt und die Fingerspitzen strichen wie von selbst immer wieder über die gehäkelte Spitze. „Omi?“ Mit großen Augen schaute Alexa ihre sonst so patente und nie um ein Wort verlegene Großmama an. „Was ist los, du scheinst ja meilenweit weg zu sein mit deinen Gedanken? Komm, erzähl mir was dir durch den Kopf geht!

Mit einem kleinen Ruck setzte sich ihre Großmutter auf dem Stuhl zurecht. Alexa war ein aufmerksamer Beobachter und so entging ihr auch der leise Hauch von Röte auf den Wangen ihrer Großmutter nicht. „Es war kurz nach dem Krieg“, begann Oma leise. „Deine Mama war ein dürrer Stecken und ständig hungrig, na ja wie alle Kinder eben. Lebensmittel waren rar. Es gab Lebensmittelkarten, oft musste man stundenlang anstehen und bis man an der Reihe war, gab es nichts mehr. In meiner Not bin ich oft bis weit in den Odenwald oder die Pfalz gefahren um dort zu „fuggern“. So nannten wir das damals, wenn wir ein wenig Butter oder Milch, ein Stück Brot oder ein Schälchen Quark gegen irgend was getauscht, oder im schlimmsten Fall gebettelt haben. Aber irgendwann waren die Quellen alle versiegt. Keiner hatte noch so viel, als dass er gerne gegeben hätte oder, vielleicht brauchten sie auch wirklich das, was sie hatten, selbst. Ich war verzweifelt, aber ich durfte mir vor dem Kind nichts anmerken lassen. In meiner Not ging ich eines Tages zu meiner letzten Arbeitsstelle. Ich hatte in der Firma vor dem Krieg immer mal wieder als Näherin ausgeholfen. Vielleicht würde meine alte Chefin Rat wissen? Vielleicht gab es schon wieder Aufträge?“ Nachdenklich rührte Oma in ihrem Kaffee. Was nun kam, schien ihr nicht so leicht über die Lippen zu wollen. Nach einer langen Pause, nahm sie die Tasse in die Hand und trank sie in einem Zug aus. Energisch stellte sie die Tasse auf den Unterteller zurück und fuhr fort:

„Ich ging also in die Näherei und Frau Brenner, die Frau vom Chef hat sich meine Sorgen angehört. „Kätsche, ich kann leider nix mache, mir hawwe a noch kä Ärwet“, war ihre Antwort. „Sie hat aber schon gesehen, dass mir das arg war, Kind ! Da hat sie mich von oben nach unten scharf gemustert und dann gesagt:“ Kätsche geh emol mit mir ins Lager.“ „Ich hab das nicht verstanden, was ich in dem Lager soll, weil, wenn´s keine Arbeit gibt dann gibt’s auch kein Material. Bin trotzdem hinterher und was meinst du mein Mädel, was ich da zu sehen bekommen hab?  Von wegen nichts da! Da lagen mindestens fünf große Ballen mit dem schönsten Spitzenstoff, den ich je gesehen hab!“

„Boah, echt jetzt, Oma?“, Alexa bekam große Augen.

„Ja Kind, so wahr ich hier sitz“, war Omas Antwort. „ Aber es kommt noch besser, wart´s ab! Die Frau Brenner hat mir erklärt, das wär alles Vorhangstoff, sicher so schön „als wie flämische Spitze“, hat sie betont. Es hat mir natürlich sofort in den Händen gejuckt, den wundervollen Stoff in schöne Vorhangschals zu verarbeiten. Ich sah mich schon den Ballen aufrollen, den Stoff abmessen, zurechtschneiden, zuletzt an der Maschine ein Bleiband einnähen. Das würde einen Heidenspaß  machen und was könnte man alles dagegen tauschen!“ Dann ist mir eingefallen, dass ich Frau Brenner nichts aber auch gar nichts zum Tausch anbieten konnte. Geld würde sie sicher auch nicht interessieren, das hatte schon lange seinen Wert verloren. Frau Brenner hat wohl gemerkt, wie mir im wahrsten Sinne des Wortes die Kinnlade nach unten gefallen ist. Sie hat mich in den Arm genommen, fest gedrückt und gesagt:“ Nimm dir erschd emol än Balle. Wenn du die Vorhäng getauschd bekommschd, sieh zu, dass de mir ä Flasch Öl midbringschd.“

„Eine Flasche Öl gegen einen ganzen Ballen Vorhangstoff ?, Alexa verstand die Welt nicht mehr. „Kind, du hast keine Ahnung wie wertvoll die Grundnahrungsmittel damals waren. Das war schon ein angemessener Tausch“, fügte Oma hinzu.

„Ich hab nicht lang nachgedacht und mir einen Ballen geschnappt“. Alexa sah, wie die Augen ihrer Großmutter bei der Erinnerung an den guten Fang strahlten. Auf dem Rausweg, hab ich gehört, wie mir Frau Brenner noch was nachruft, das so klang wie „ die hängen sich bissel aus.“ Was will die mir erzählen, hab ich gedacht, alle Vorhänge müssen sich aushängen, damit sie schön und glatt fallen, bin ja nicht von gestern.“ Danach bin ich heim und hab angefangen zu schneidern. Die Arbeit ging mir wunderbar von der Hand, der Stoff fühlte sich herrlich an. Obwohl mir langsam die Augen zufallen wollten, habe ich nicht aufhören können, bevor nicht drei Paar exquisite Vorhangschals vor mir lagen. Die Freude etwas so schönes zu schaffen und die Hoffnung darauf, es auch verkaufen zu können haben mich bis zum Morgengrauen wach gehalten.

Ich hab mir einen Muckefuck gebrüht, Kaffee gab es ja leider keinen. Dann hab ich mein blaues Sonntagskostüm vom vorm Krieg angezogen und meine cremefarbene elegante Seidenbluse. Natürlich hab ich mich auch noch ein wenig zurecht gemacht, so gut es halt ging. „Wie du kommst gegangen, so wirst du auch empfangen“, hab ich gedacht. Voller Hoffnung bin ich in den Odenwald aufgebrochen. Mit viel Glück fuhren schon wieder zwei oder drei Züge am Tag“, erzählte Oma. Alexa hatte den Eindruck, ihre Omi sei beim Erzählen zwanzig Jahre jünger geworden. Um ihre Augen waren die Sorgenfalten verschwunden und alles, was man noch erkennen konnte, waren kleine Lachfältchen.

„Und dann? Komm erzähl Oma, was hast du ausgehandelt? , wollte Alexa lächelnd wissen.

„Langsam mein Mädele, ich komm ja gleich dazu“ war Omas Antwort. Sie lächelte und fuhr in ihrer Erzählung fort: „Als ich im ersten Dorf ankam, bin ich gleich auf den größten Hof zugesteuert. Wenn einer noch genug zum Tauschen hat, dann ist das der Bauer mit dem meisten Land und dem größten Viehbestand“, so kombinierte ich. Ich war zwar erst ein paar Wochen zuvor bei denen gewesen und sie hatten mir gesagt, sie hätten nichts und schon gar nicht für mich, aber nun kam ich ja nicht mehr als Bittstellerin, sondern hatte „flämische Spitze“ dabei“, Oma grinste über beide Backen. „Wer nichts wagt, der nichts gewinnt, hab ich gedacht und angeklopft. Es kam, wie ich es vorausgeahnt hatte. Kaum hatte ich der Bäuerin die blütenweißen fein durchbrochenen Schals gezeigt, gab es kein Halten mehr. Sie rief lauthals nach ihrem Mann, der war auch sehr einverstanden mit der guten „Anlage“.  Der Bauer hat mir alle sechs Schals im Tausch gegen einen Schinken und ein Stück Käse, einen Laib Brot und 2 Dutzend Eier abgenommen. Das war einerseits viel für mich. Andererseits, wäre das wirklich echte Spitze gewesen, hätten sie meine Notlage ganz schön ausgenutzt. Aber ich war zufrieden. Das war ein guter Anfang und ich hatte ja noch viel vom Ballen übrig. Es würde auf die Dauer schon für eine Flasche Öl reichen.“

In aller Gemütsruhe schenkte Oma sich Kaffee nach, rührte Kondensmilch und Zucker ein und trank langsam und genussvoll. Dann nahm sie ihre Erzählung wieder auf:„Ich wurde natürlich gebeten, die Schals sofort aufzuhängen. Die Bäuerin hatte alles, was es braucht, da. Also wurden die alten Vorhänge abgenommen, die „Röllchen“ herausgenommen, in die neuen Schals eingesteckt und diese dann schließlich in die Gardinenleiste eingefädelt. Ich brauchte eine gute Stunde bis ich in allen drei Zimmern die neuen leicht schwingenden Gardinen aufgehängt hatte. Die Bäuerin hatte sich zwischendurch in den Stall verabschiedet. es war später Nachmittag und Zeit zum Melken geworden und so konnte sie mir nicht länger bei der Arbeit zuschauen.

Endlich war ich fertig mit meiner Arbeit und ging zurück in das Wohnzimmer, in dem ich mit dem Aufhängen begonnen hatte. Dort dachte ich, meine Augen spielen mir einen Streich! Die wundervollen neuen Vorhänge, schwangen nicht mehr, sie lagen bleischwer am Boden auf. Seit ich sie aufgehangen hatte, waren sie mindestens 5 Zentimeter länger geworden. Das war keine Spitze, das war „Brüssler Gummi“! Ganz leise hatte ich Frau Brenner im Ohr „die hängen sich bissel aus….

Mir brach der Schweiß aus, was sollte ich nur tun? Den schönen Schinken und die anderen köstlichen Sachen, nein das würde ich mir nicht mehr nehmen lassen! Die Bauern hatten Spitze für wenig haben wollen, nun hatten sie sogar mehr Vorhangstoff bekommen, als sie wollten. Schnell packte ich meine Sachen zusammen. Ich ging über den Hof in den Stall und verabschiedete mich von der Bäuerin. Ich hatte mehr Glück als Verstand! Die Bäuerin hatte mein „Werk“ ja gesehen und bezahlt war auch schon, also konnte ich sofort aufbrechen. Zuerst ging ich langsam, dann, als ich außer Sichtweite war, schneller und schließlich, als der Bahnhof in Sicht kam, bin ich gerannt, als wäre der Teufel hinter mir her. Als ich endlich im Zug saß und wieder Luft bekam, konnte ich nicht anders, da hab ich gelacht, bis mir die Tränen kamen. Die Leute haben mich komisch angeschaut und sich wohl gefragt, was ich zu lachen habe, so kurz nach dem Krieg, aber das war mir egal.

Alexa schaute ihre Oma verdutzt an, dann verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln und schließlich begann sie laut und herzlich zu lachen. „Mensch Omi, du bist ja ein Tausendsassa. Oder soll ich lieber „Oma Hood“ zu dir sagen?“ Also ehrlich, das hätte ich nicht von dir gedacht! Aber sag mal, die Nummer konntest du sicherlich nur einmal bringen?

„Ach was Kind, mit ein bissel Planung und wenn man sich genau aufschreibt, wo man schon gewesen ist, geht das auch so lange, bis kein Stoff mehr da ist. Oma grinste wie ein kleines Teufelchen. „Weißt du, ich hab nur denen nichts von dem „Aushängen“ gesagt, die mich beim Tauschen über den Tisch ziehen wollten. Die waren dann sozusagen betrogene Betrüger. Bei den anderen, die mich wirklich angemessen bezahlen wollten bin ich länger geblieben, und hab die Gardinen umgenäht, wenn sie sich „ausgehangen“ hatten.  Immer noch lachend verabschiedete sich Alexa von ihrer geliebten Großmutter. Putzen und Kaffee mit ihr waren schön, aber am allerbesten waren und blieben ihre wundervollen Anekdoten.

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