Herrmann, ein rüstiger Rentner von 82 Jahren, war mit seinem Gehstock mal wieder auf dem Weg zum Friedhof, um die Ruhestätte seiner vor einem Jahr verstorbenen Frau Renate zu besuchen. Man konnte ihn beobachten, wie er gemächlich und dennoch zielbewusst zu einer Bank lief. Diese Bank trennte den Ruheforst vom anonymen Gräberfeld. Fast jeden Tag zur gleichen Zeit – wenn das Wetter trocken und mild war – war er dort zu sehen. Herrmann saß meist über eine Stunde auf der Bank, fast immer allein.
Seit seine Frau nicht mehr da war, hatte er kaum noch Bekannte. Aufgrund seines Alters hatte sich sein Freundeskreis gelichtet – meist durch Sterbefälle oder Umzüge ins Altersheim. Trotzdem genoss Herrmann die Stille des Friedhofs. Mit dem Kopf auf die Armbeuge gelegt und durch den Gehstock gestützt, beobachtete er das Leben um ihn herum. Die Vögel suchten eifrig nach Futter oder sammelten im Frühling Nistmaterial. Scharen von Fliegen, Bienen und Schmetterlingen tummelten sich an sonnigen Tagen in der Luft. Überall summte und brummte es. Manchmal huschte ein Eichhörnchen flink über das Gräberfeld, um geschwind einen Baum hinaufzuklettern. Diese friedliche Szene erfüllte Herrmann mit innerem Frieden. Hier fühlte er sich seiner Frau nah. Hier hielt er Zwiesprache mit ihr. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, allein dort zu sitzen.
Doch an einem Tag im Juni – Herrmann hatte sich etwas verspätet – bemerkte er von weitem, dass bereits jemand auf seiner Bank saß. Etwas ärgerlich kam er näher. Wie konnte jemand es wagen, seinen Platz einzunehmen? Vertreiben wollte er die Person jedoch nicht. Aber dies war SEIN vertrauter Rückzugsort. Als Herrmann näher kam, sah er, dass eine ältere Frau auf der Bank saß. Immer noch verstimmt setzte er sich auf die äußerste Kante – bewusst mit dem Rücken zu ihr. Eine Unterhaltung wollte er vermeiden.
Gedankenverloren verharrte er, bis die Frau ihn plötzlich ansprach. Widerwillig blickte er auf und bemerkte bestürzt, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Seine Barschheit tat ihm plötzlich leid. Die Worte der Frau drangen endlich zu ihm durch:
„Haben Sie auch einen Verwandten hier liegen? Ich habe Sie schon einige Male hier gesehen, doch ich wollte Sie nie ansprechen oder stören. In meiner Trauer wollte ich mit niemandem reden. Dass ich heute hier sitze, liegt nur daran, dass ich Kreislaufprobleme habe und mich etwas erholen musste. Aber“, fügte sie eilig hinzu, „sobald es mir besser geht, werde ich wieder gehen.“
Herrmann wurde verlegen. Er drehte sich zu ihr und sagte:
„Beruhigen Sie sich. Bleiben Sie nur sitzen. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen den Eindruck vermittelt habe, Sie wären nicht willkommen.“ Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Wissen Sie, hier liegt meine Frau auf dem Gräberfeld. Die Bank ist in der Nähe des Schildes mit ihrem Namen. Haben Sie auch jemanden verloren?“
Die Frau nickte traurig. Herrmann fühlte, wie seine anfängliche Abwehrhaltung verschwand. Es störte ihn nicht mehr, sich mit ihr zu unterhalten. Im Gegenteil, er fand es plötzlich angenehm, mit jemandem zu plaudern.
Im Laufe des Gesprächs erklärte die Frau: „Wissen Sie, ich bin hier in der Gemeinde geboren und aufgewachsen. Hier habe ich meinen Mann kennengelernt und bin mit ihm nach Norddeutschland gezogen. Dort hat es mir auch gefallen. Meine Kinder wurden dort geboren und wohnen noch immer verstreut in ganz Norddeutschland. Leider war ich dort ganz allein, nachdem mein Mann nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben ist. Es hat mich wieder in die Heimat zurückgezogen.“ Versonnen fügte sie hinzu: „Es ist beruhigend zu wissen, dass man die Asche der lieben Verstorbenen bei einem Umzug umbetten kann.“ Nachdenklich, mit einem kleinen Nicken ihres Kopfes, fügte sie leise hinzu: „So hat man seine Lieben wenigstens in der Nähe und kann sie besuchen, wenn das Herz schwer ist.“
Herrmann nickte zustimmend. Er konnte das gut verstehen. Schließlich ging es ihm genauso. Doch etwas anderes beschäftigte ihn. Ihre Aussage, dass sie in diesem Ort geboren sei, ließ eine vertraute Erinnerung in ihm aufsteigen. Auch er stammte von hier.
Die Frau schien in etwa sein Alter zu haben. Könnte er sie kennen? Vielleicht aus der Schulzeit? Etwas an ihr kam ihm seltsam vertraut vor, doch er konnte es nicht einordnen.
Die Frau erzählte weiter:
„Ich wohne wieder hier, weil in meinem Elternhaus im Parterre eine Wohnung leer wurde. In meinem Alter schien es ratsam, in eine kleine Wohnung zu ziehen, die ich ohne Treppensteigen betreten kann. Natürlich hoffte ich, wieder an alte Freundschaften anknüpfen zu können. Mit Bedauern musste ich feststellen, dass fast niemand aus meinem alten Freundeskreis noch da ist.“ Herrmann nickte nachdenklich. Er spürte, wie ihre Offenheit in ihm Erinnerungen weckte. Mit einem sanften Lächeln fragte die Frau schließlich: „Wie ist es bei Ihnen?“
Herrmann überlegte eine Weile, bevor er auf ihre Frage antwortete:
„Ach, wissen Sie, ich wohne schon mein ganzes Leben lang hier im Ort. Meine Frau ist hierhergezogen, hier haben wir geheiratet, ein Haus gebaut und zwei Kinder großgezogen. Ich hatte in der Nachbarstadt Arbeit gefunden, und meine Frau arbeitete hier im Lebensmittelgeschäft. Als wir Rentner wurden, hat meine jüngste Tochter das Haus übernommen, und wir behielten eine kleine Wohnung im Erdgeschoss. Wir waren froh, frei von der Verantwortung zu sein und hatten so die Möglichkeit, noch einige schöne Reisen zu machen.“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Achtundfünfzig Jahre waren wir verheiratet. Wir hatten gehofft, unsere Diamant-Hochzeit noch zusammen feiern zu können. Wir hatten schon Pläne dafür gemacht. Doch dann wurde meine Frau schwer krank und schließlich ein Pflegefall. Zwei Jahre lang war ich für sie da, dann war sie plötzlich weg. Ein Leben ohne sie konnte und wollte ich mir nicht vorstellen. Mein Leben war von heute auf morgen so ganz ohne Pflichten. Ich musste mich völlig neu ordnen.“
Herrmann wurde klar, dass er mit dem Verlust seiner Frau auch seinen Halt im Leben verloren hatte. Versonnen musterte er die ältere Frau neben sich. Ihr Gesicht weckte eine seltsame Vertrautheit in ihm.
„Wo haben Sie denn während Ihrer Jugend gewohnt?“ platzte es plötzlich aus ihm heraus. Die Frau drehte sich zu ihm, und ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Im letzten Haus in der Sammelgasse, da, wo die große Holzfigur steht“, antwortete sie. Herrmanns Herz setzte einen Schlag aus. Diese Worte – dieser Ort – sie riefen eine Flut von Bildern in ihm wach. Das letzte Haus in der Sammelgasse, direkt gegenüber seinem Elternhaus. Er spürte, wie ihm die Erinnerung über die Lippen drängte:
„Bist du… Anna mit den Rattenschwänzen? Die, vor der sogar die großen Jungs Respekt hatten?“ Die Frau zog überrascht die Augenbrauen hoch, bevor ein Leuchten über ihr Gesicht huschte. Ihre grauen Augen schienen für einen Moment in die Vergangenheit zurückzukehren, und sie lachte auf.
„Ja, ich bin’s! Und du bist Herrmann, mein Sandkastenfreund, der immer zerrissene Hosen hatte und ständig irgendwelche Spinnen oder Käfer in der Tasche!“ Sie schüttelte den Kopf und fügte mit einem neckischen Lächeln hinzu: „Ich erinnere mich, deine Mutter war oft ganz schön verzweifelt wegen dir. Du bist mir gleich so bekannt vorgekommen. Ich hatte sofort Vertrauen zu dir.“
Herrmann konnte nur aufgewühlt nicken. Welch ein Abenteuer, hier auf dem Friedhof auf eine Jugendfreundin zu treffen! Beide lachten laut auf; die Vergangenheit war plötzlich so nah. Herrmann musste unwillkürlich an Annas impulsive Art in ihren jungen Jahren denken und spontan sagte er: „Anna, deine Mutprobe damals hätte dich fast das Leben gekostet. Nur damit die großen Jungs Respekt vor dir bekamen, bist du von den Ästen der großen Buche am Wasser, mit einer langen Leine über den Teich gependelt und hast dich fallen gelassen, obwohl du nicht schwimmen konntest.“ In der Erinnerung daran verzog er schmerzhaft sein Gesicht, um dann fortzufahren: „Wenn ich dir damals nicht gefolgt wäre und dich beobachtet hätte, wäre es nicht möglich gewesen rechtzeitig Hilfe zu holen. Keiner dieser aufgeblasenen Kerle konnte dich aus dem Teich retten.“
Aufgewühlt, aber dennoch berührt von diesen Erinnerungen, meinte Anna:
„Kannst du dich daran erinnern, dass wir eines Tages den Geldbeutel vom Nachbarn Stern gefunden hatten? Wie wir ihn an eine durchsichtige Schnur banden? Stern sah ihn auf der Straße liegen und war froh, ihn gefunden zu haben. Doch jedes Mal, wenn er danach greifen wollte, haben wir daran gezogen, und er wunderte sich, warum er ihn nicht fassen konnte.“
Herrmann lachte laut.
„Natürlich erinnere ich mich daran. Und ich weiß noch, wie er uns, als er merkte, was los war, mit einem Besen durch das ganze Dorf gejagt hat. Hätte er uns erwischt, hätten wir ordentlich Dresche bekommen.“ In Gedanken daran fügte Anna schmunzelnd hinzu:
„Weißt du noch, wie wir die unreifen Pflaumen aus dem Garten deines Opas gemopst haben? Wir haben uns die Bäuche damit vollgeschlagen. Die Strafe folgte auf dem Fuß. Wegen Bauchschmerzen und Dünnpfiff konnten wir einige Tage nicht zur Schule gehen und mussten alle Arbeiten nachholen.“ Herrmann lachte herzlich.
„Das weiß ich noch ganz genau! Deine Ideen haben uns immer in Schwierigkeiten gebracht.“
Die beiden blieben noch lange auf der Bank sitzen, vertieft in ihre Erinnerungen an die Kindheit. Die untergehende Sonne tauchte den Friedhof in ein warmes Licht, bis sie schließlich hinter dem Wald verschwand. Die eintretende Kühle zwang sie zum Aufbruch. Gemeinsam verließen sie den Friedhof und verabschiedeten sich am Ausgang. Anna war mit dem Auto gekommen, während Herrmann sein Fahrrad dabei hatte. Sie stieg lächelnd ein, drehte sich noch einmal um und winkte, bevor sie langsam davonfuhr.
„Bis nächste Woche im Café“, sagte sie, bevor sie verschwand. Ihre Worte hallten wie ein Versprechen in Herrmanns Herz nach. Jede Woche wollten sie sich im Café am alten Markt treffen, um ihre Erinnerungen aufleben zu lassen.
Herrmann verweilte noch eine Weile am Grab seiner Frau. Mit leiser Stimme sprach er zu Renate, seiner geliebten Frau, die so lange sein Halt und seine Wärme gewesen war.
„Ich weiß, du würdest es mir gönnen“, flüsterte er und fühlte fast, wie ihr wohlwollendes Lächeln ihn sanft ermutigte. Mit einem erleichterten Herzen machte er sich schließlich auf den Heimweg. Ein Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, und eine kleine Melodie, die er vor sich hin pfiff, begleitete ihn. Es war, als hätte die Begegnung mit Anna ihm etwas zurückgegeben, das er verloren geglaubt hatte – das Gefühl, lebendig zu sein, wieder Teil von etwas Bedeutsamem. Die Dunkelheit, die ihn seit Renates Tod umgeben hatte, wich langsam einer neuen Wärme. Das Leben fühlte sich wieder ein bisschen bunter, ein bisschen heller an.
Und das alles – dank einer unerwarteten Begegnung auf dem Friedhof.