Im Fitnessstudio

Ingrid schulterte ihre Sporttasche und schlug die Autotür zu. Das flache Gebäude sah einladend aus. Große Fenster und Glastüren, hinter denen man die Geräte erkennen konnte. Fahrräder, Stepper und Laufbänder, das übliche. Ein paar Leute liefen an ihr vorbei. Keine Bodybuilder, sondern Leute in ihrem Alter. Das beruhigte sie etwas.

Wo musste sie nochmal hin? Saal 2. Sie passierte den Spinning-Raum. Dafür reichte ihre Kondition aktuell nicht. Schade. Mit zögernden Schritten betrat sie den Kursraum. Andere Teilnehmer, hauptsächlich in ihrem Alter, rollten bereits ihre Matten aus. Sie hatte gerade ihre Matte ausgebreitet und sah auf die Uhr. Natürlich war sie wieder viel zu früh. Sie war immer zu früh.

Ein Mann mit silbergrauen, dünnen, verwuschelten Haaren hinkte an ihr vorbei und warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Dann blieb er stehen, als sei er im Moment festgefroren. Seine blauen Augen weiteten sich.

Irgendetwas an seinem Blick irritierte sie. Es war, als würde er durch sie hindurchsehen in eine andere Zeit. Ein vages Gefühl von Vertrautheit beschlich sie, aber sie konnte es nicht greifen. Er redete nicht mit ihr, sondern schüttelte den Kopf, als wolle er einen Gedanken abstreifen, ging an ihr vorbei und rollte hinter ihr seine Matte aus. Seine Hanteln polterten immer wieder zu Boden. Die Kursleiterin machte sich schon Sorgen um ihre Holzdielen. Dabei sah er nicht aus wie jemand, der zum ersten Mal Sport machte. Seine Bewegungen waren nur zerstreut, abgelenkt.

Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn immer häufiger beobachtete. Wenn er dachte, niemand sähe hin, starrte er manchmal minutenlang aus dem Fenster, die Hantel vergessen in der Hand. Ein paarmal trafen sich ihre Blicke im Spiegel und er wandte sich hastig ab.

An einem verregneten Donnerstag kam sie zu spät. Sie hastete in die Umkleide, warf ihre Sporttasche auf die Bank. Als sie in den Kursraum eilte, kam sie am Spinningraum vorbei. Da saß er drin und freute sich sichtlich auf die kommende Stunde. Wie es aussah, hatten sie die gleichen Interessen. Warum kam er ihr nur so bekannt vor? Sie kramte in ihrem Gedächtnis, aber keines der Gesichter passte zu diesem Mann.

Im Kurs fühlte sie sich fast ein wenig alleingelassen ohne den fremden Mann. Was für ein absurder Gedanke. Als sie das Fitnessstudio verließ, begann es stärker zu regnen. Sie zog die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und lief zum Parkplatz.

„Entschuldigung!“

Ingrid drehte sich um. Da war er. Er kam näher und hielt den Regenschirm über ihren Kopf. „Sie heißen Ingrid?“

Ingrid nickte.

„Ingrid Weber?“ wiederholte er mit leuchtenden Augen.

„Ja, das ist mein Mädchenname. Woher kennen Sie den?“ fragte sie verwundert.

Er atmete tief ein. „Wir waren zusammen auf der Grundschule in Rodalben. Klasse 3b bei Frau Schäfer. Du hattest immer diese rote Schleife im Haar und hast beim Sportfest den Weitsprung gewonnen.“

Ingrid runzelte die Stirn. „Ich bin in Landau aufgewachsen.“

Sein Gesicht erstarrte. „Aber…“ Er schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein. Du siehst genauso aus wie sie. Die gleichen Augen, das gleiche Lächeln.“ Er senkte den Blick. „Wie peinlich. Entschuldigen Sie bitte.“

„Nicht doch.“ Ingrid zögerte. „Und Sie sind?“

„Peter Hoffmann“, antwortete er. „Aus Rodalben, offensichtlich.“ Ein schiefes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Sie standen schweigend im Regen, der Schirm über ihnen beiden.

„Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?“ fragte er plötzlich. „Als Entschuldigung für die Verwechslung.“

Ingrid überlegte kurz. „Warum nicht?“

Im Café gegenüber erzählte Peter von seiner Schulzeit und der Ingrid Weber, die er gekannt hatte. „Sie war meine erste Liebe. Ich war zu schüchtern, es ihr je zu sagen. Dann zog ihre Familie weg.“

„Und Sie haben sie nie wiedergesehen?“

„Nein.“ Er rührte in seinem Kaffee. „Als ich Sie im Fitnessstudio sah, dachte ich, das Schicksal hätte mir eine zweite Chance gegeben.“

„Daher Ihr abwesender Blick?“

„War ich so offensichtlich?“ Er lachte verlegen.

„Ziemlich.“

„Und Sie? Was hat Sie in diesen Kurs verschlagen?“

„Die üblichen Gründe. Die Jahre, die Knochen, der Arzt.“

Sie redeten noch lange. Über Bücher, die sie beide liebten – eine gemeinsame Vorliebe für John Irving und Gabriel García Márquez. Über seine Arbeit als Architekt, ihre als Übersetzerin. Dass sie beide jeweils ein Jahr in Barcelona verbracht hatten, wenn auch mit zwanzig Jahren Abstand. Über die kleinen Cafés in den Seitenstraßen des Gotischen Viertels, die sie beide kannten.

Über das Leben. Über Spinning. Beide liebten das Gefühl, wenn der Schweiß ausbrach und die Musik einen in ferne Sphären mitnahm.

Als sie schließlich aufbrachen, hatte der Regen aufgehört.

„Es tut mir leid, dass ich nicht Ihre Ingrid bin,“ sagte sie am Parkplatz.

„Mir nicht,“ erwiderte er überraschend. „Meine Erinnerung an sie ist fast vierzig Jahre alt. Ein Kindheitsschwarm.“ Er hielt inne.

Ingrid verstand, was er sagen wollte. „Kommen Sie nächste Woche wieder zum Kurs?“

„Wenn Sie dafür mal mit ins Spinning kommen?“

Sie nickte. „Und vielleicht könnten wir danach wieder einen Kaffee trinken?“

Als Ingrid nach Hause fuhr, dachte sie über die seltsame Begegnung nach. Er hatte nach jemandem gesucht, den er vor langer Zeit verloren hatte. Stattdessen hatte er sie gefunden – eine andere Ingrid. Manchmal führen Umwege zu unerwarteten Zielen. Und manchmal muss man jemanden verwechseln, um jemand Neues zu finden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert