Mama stand mit der Kristallplatte in der Tür zum Wohnzimmer und zählte. Ein alter Reflex aus den Jahren, als wir Kinder waren und sie sichergehen musste, dass auch ja alle gleich viel bekamen. Zwölf russische Eier auf der guten Platte, die sonst das ganze Jahr im Schrank verstaut war. Jedes perfekt halbiert, mit Mayonnaise-Eigelb-Creme gefüllt und mit einem Dillzweig geschmückt.
Dann wanderte ihr Blick über die Gesichter am Tisch. Eins, zwei, drei… Sie blinzelte, fing noch einmal von vorne an. Die Erkenntnis traf sie mitten in der Bewegung, als sie die Platte gerade abstellen wollte.
Dreizehn. Wir waren dreizehn.
Tante Emma musste ihren Gesichtsausdruck bemerkt haben. „Die Eier sehen ja wieder wunderbar aus, Christa“, sagte sie schnell, aber ihre Stimme klang eine Oktave zu hoch.
Der kleine Tim zählte jetzt auch, den Finger in der Luft, die Lippen lautlos bewegend. Seine Augen wurden groß. „Aber Mama, das sind ja nur…“
„Psst!“, zischte seine große Schwester und trat ihm unterm Tisch gegen das Schienbein.
Die Platte zitterte leicht in Mamas Händen. Ein feines Klirren, wie der Ton einer angeschlagenen Glocke. Papa räusperte sich und schob seinen Stuhl zurück, wahrscheinlich um eine seiner berühmten Reden zu halten, die alles noch schlimmer machen würden.
Und dann, als hätte jemand dort oben Mitleid mit uns, ging das Licht aus.
„Oh!“, rief Oma in die plötzliche Dunkelheit. „Wie früher, wisst ihr noch? Als wir uns immer Geschichten erzählt haben?“
Die Erleichterung in Mamas Stimme war fast greifbar: „Moment, ich hole die Kerzen!“
Draußen schneite es große, weiche Flocken. Der Strom blieb für zwei Stunden weg, aber keiner vermisste ihn. Und als Tim später fragte: „Aber Mama, waren das nicht zu wenige…?“, legte Tante Emma nur den Finger an die Lippen und lächelte: „Weißt du, manchmal ist es wie ein kleines Weihnachtswunder – am Ende reicht es immer für alle.“
Als Mama im nächsten Jahr die Kristallplatte mit den russischen Eiern ins Wohnzimmer trug, stutzte Tim: „Mama, du hast schon wieder zu wenige gemacht!“
Mama lächelte nur und stellte die Kerzen auf den Tisch. „Weißt du noch, letztes Jahr?“, fragte sie, während sie das Streichholz anzündete. „Wer möchte anfangen mit seiner Geschichte?“
Oma lehnte sich in ihrem Sessel zurück, ihre Augen funkelten im Kerzenschein. „Also, habt ihr schon mal gehört, wie der Weihnachtsmann damals seinen Schlitten in unserem Schornstein eingeparkt hat?“
Und so wurde aus einem Stromausfall eine Tradition. Jedes Jahr an Heiligabend fehlt nun absichtlich ein russisches Ei auf der Kristallplatte. Die Kerzen werden entzündet, auch wenn der Strom nicht ausgefallen ist, und die Geschichten werden immer bunter. Manchmal sind sie lustig, manchmal nachdenklich, manchmal ein bisschen traurig – aber am Ende sind es nicht die Eier, die alle satt machen, sondern die Geschichten, die wir teilen.
Und wenn neue Gäste verwundert auf die Kristallplatte schauen und nachzählen wollen, zwinkert Tim ihnen nur zu und flüstert: „Warte nur, gleich kommt das Beste…“